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14.10.2015

Brief an die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
  ich möchte mich zunächst für Ihre Anteilnahme anlässlich der Bombenanschläge in Ankara, die am Samstagmorgen, den 10.10.2015, verübt wurden, bedanken.


Brief an die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

In Ihrem Kondolenzbrief sprechen Sie dem türkischen Volk, stellvertretend dem derzeit amtierenden Ministerpräsidenten Davutoğlu, Ihr Mitgefühl aus und teilen Ihre Überzeugung, dass die türkische Regierung und die gesamte türkische Gesellschaft in diesem Moment zusammenstehen und dem Terror eine Antwort der Geschlossenheit und der Demokratie entgegensetzen, mit.

 

Auch ich wünsche mir, dass der türkische Staat unter Berufung auf die Menschenrechte und Demokratie genauso agiert, wie Sie es beschreiben. Leider divergiert meine Einschätzung.

 

Weder die türkische Regierung noch Staatspräsident Erdoğan und auch Ministerpräsident Davutoğlu agierten sowohl in der Vergangenheit als auch in der derzeitigen Situation so, wie wir es von Demokraten erwarten. Stattdessen gehören die Missachtung von elementaren Grundrechten, die Kontrolle von Presse und Öffentlichkeit und die Konzentration der Macht in einer Hand zur täglichen Agenda der Politik der AKP-Regierung.

 

Noch nie war die türkische Gesellschaft so gespalten wie heute. Die Polarisierung ist ein Phänomen, das über ein Jahrzehnt andauert, und begann mit der Wahl der AKP im Jahr 2002. Die ohnehin gegen uns AlevitInnen bestehenden Vorurteile wurden geschürt und intensiviert: Unsere Gotteshäuser betitelte Erdoğan bereits während seiner Amtszeit als Ministerpräsident als „Merkwürdigkeiten“, um unsere von konservativen Kreisen behauptete „Gottlosigkeit“ zu bekräftigen. Auch KurdInnen, EzidInnen, ChristInnen, ArmenierInnen, Angehörige der Roma-Minderheit, FreundInnen aus der LSBTTIQ-Szene – eben alle, die nicht in das islamistische Weltbild der AKP und in die „türkisch-islamische Synthese“ passten – sind Angriffen und Diskriminierungshandlungen ausgesetzt wie noch nie.

 

Wir sind sehr besorgt über die jüngsten Entwicklungen in der Türkei. Seit der Wahl am 7. Juni 2015 vergeht kein Tag, ohne dass uns eine Nachricht über Anschläge erreicht. Untersucht man die Rhetorik der Mitglieder der türkischen Regierung und des Staatspräsidenten, ist eine immanente Drohung zu erkennen: „Wenn ihr die AKP nicht wählt, wird das Land im Chaos versinken!“, ist die Botschaft. Wir sind der Meinung, dass die türkische Regierung und der Staatspräsident für den Krieg und die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Türkei verantwortlich sind.

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

 

wir Alevitinnen sind dankbar darüber, unseren Glauben dank der in Deutschland geltenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben, erfahren und erforschen zu dürfen. Ohne diese Möglichkeit wären viele von uns mit großer Sicherheit schon assimiliert bzw. hätten nicht das Selbstvertrauen, sich als AlevitInnen zu „outen“. Wir sehen uns aus diesen Gründen ganz besonders der Demokratie verpflichtet und wünschen uns, dass unsere Repräsentanten, insbesondere Sie als unsere Bundeskanzlerin, Vertretern aus Ländern mit diktatorischen Tendenzen die Praxis der Grundrechte in aller Deutlichkeit nahe legen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Hüseyin Mat
Bundesvorsitzender